Migration und Flucht

GEDANKEN ZUM THEMA: DEUTSCHLAND UND DIE FLÜCHTLINGSFRAGE

Ein Schreiben an einen Facebook-Freund aus Côte d’Ivoire. Er studiert Germanistik und wurde mit der Aufgabe: „Deutschland und die Flüchtlingsfrage“ konfrontiert. Dazu habe ich ihm nachfolgende, von mir zwischenzeitlich ergänzte/aktualisierte Gedanken geschrieben:

Es geht um die Frage der Immigration von Millionen von Asylbewerbern, die vor allem seit der großen Flüchtlingswelle im Jahre 2015 unser Land in Atem hält (den Begriff „Asylant“ verwende ich nicht gerne, weil er einen negativen Beigeschmack hat).

Insbesondere als Folge der (Bürger-)Kriege in Syrien, Afghanistan, Irak und anderen Ländern des Nahen Ostens einerseits und der zunehmenden Migration aus Afrika (insbesondere aus Eritrea, Somalia, Südsudan und Westafrika) andererseits gibt es in den letzten Jahren vor allem zwei große Flüchtlingsströme nach Europa: über das östliche Mittelmeer („Balkanroute“) und über das westliche Mittelmeer (Spanien, Italien). Die meisten Flüchtlinge kommen bzw. wollen indes erst gar nicht bis Europa, sondern bleiben vor allem in ihren Nachbarländern wie Sudan, Uganda, Libanon, vor allem in der Türkei. Viele Flüchtlinge verbleiben auch mehr oder weniger freiwillig im von Chaos, Anarchie und Bürgerkrieg geprägten Libyen, wo sie oft in menschenunwürdigen Unterkünften meist vergebens auf eine Chance zur Fahrt über das Mittelmeer nach Europa warten. Das Thema Flüchtlinge und Libyen ist ein Kapitel für sich, das den Rahmen des vorliegenden Themas sprengt.

Von den Flüchtlingen, die bis nach Europa gelangen, sind in den letzten Jahren mit Abstand die meisten nach Deutschland gelangt (viele auch nach Frankreich und Schweden) Ich kann ohne Übertreibung sagen, daß die Flüchtlingsfrage unser Land und seine politische Situation tiefgreifend verändert hat. Nachdem es im Jahre 2015 noch eine herzerfrischende „Willkommenskultur“ gegeben hatte, also die weit verbreitete Bereitschaft, viele Immigranten aufzunehmen, spaltete sich unsere Gesellschaft seither grob gesagt in zwei politische Lager: Die einen (vor allem die Grünen und Linken) bevorzugen nach wie vor eine weltoffene Gesellschaft mit der Akzeptanz einer größeren Zahl von (zumindest „legalen“, besser gesagt: „regulären“) Flüchtlingen/Immigranten; die anderen möchten eine mehr oder weniger restriktive Flüchtlings- und Immigrationspolitik.

Ein großes Problem ist, daß es zu einer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für möglich gehaltenen Stärkung der politisch rechts orientierten Interessengruppen und Parteien, namentlich der Partei der AFD (Alternative für Deutschland) gekommen ist. Diese Partei, die zum Teil auch ultrarechte Nazis und Faschisten in ihren Reihen hat, hat unser politisches System massiv durcheinander gewirbelt. Sie hatte zwar bei der letzten Bundestagswahl „nur“ einen Anteil von etwa 14 % der Bevölkerung. In Ostdeutschland, wo im Jahre 2019 in mehreren Bundesländern Wahlen stattfanden, ist ihr Anteil zum Teil aber fast doppelt so hoch, so daß die Gefahr besteht, daß sie früher oder später an Regierungen zumindest beteiligt wird. Ein Problem ist auch, daß die AFD und ihre Anhänger zum Teil offen feindselig, ausländerfeindlich und rassistisch sind. Man kann sagen, daß dadurch und durch Haß- und Hetzparolen das politische Klima erheblich vergiftet worden ist. Die AFD wird zwar (teilweise) vom Verfassungsschutz überwacht, und es gibt sogar Überlegungen, die AFD zu verbieten, weil sie verfassungsfeindlich sei. Aber ich fürchte, daß man sich nicht traut, das äußerst schwierige Verbotsverfahren vor dem höchsten deutschen Gericht (Bundesverfassungsgericht) durchzuführen, weil diese Partei schon zu stark und einflußreich ist.

Alle politisch gemäßigten Kräfte in unserem Lande und vor allem Flüchtlingsfreunde wie ich sind in großer Anspannung und hoffen, daß die AFD zumindest nicht noch stärker wird oder aufgrund aktueller Entwicklungen („Corona“) an Attraktivität verliert. Aber allein die bloße Existenz dieser Partei hat schon dazu geführt, daß sich die Migrationspolitik der Bundesregierung unter Frau Merkel aus dem Blickwinkel (möglicher) Flüchtlinge/Immigranten verschlechtert hat. Im Sommer 2019 sind zahlreiche Gesetze in Kraft getreten, die zu einer Verschlechterung der Situation der Flüchtlinge geführt haben. Insbesondere sollen Flüchtlinge, die kein Asyl bekommen haben, verstärkt „abgeschoben“ werden.

Gott sei Dank gibt es allerdings auch eine Chance für Flüchtlinge, die kein Asyl haben, nur „geduldet“ sind, hierbleiben zu können, wenn sie „gut integriert“ sind. Aber das geht jetzt zu sehr ins Detail unseres täglichen Kampfes um Würde und Bleibeperspektive von geflüchteten Menschen.

Abschließend möchte ich noch auf das am 1. März 2020 in Kraft getretene Fachkräftezuwanderungsgesetz hinweisen, das dem zunehmenden Fachkräftemangel in Deutschland entgegenwirken soll. Dieses Gesetz soll nach Aussage der Bundesregierung Fachkräfte in „Drittstaaten“ (außerhalb der EU) gezielt anwerben.

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Hallo lieber Werner,

vielen Dank für deinen Beitrag. Schon vor Corona hat man eine zunehmende Kälte, auch der Öffentlichkeit in Bezug auf die Situation im Mittelmeer wahrgenommen. Viele Menschen und die Öffentlichkeit haben zudem keinerlei Vorstellung davon was in den Flüchtlingslagern in Libyen los ist.

Die rechten Gruppen können derzeit von Corona sogar noch profitieren, weil sie mit verschiedenen V-Theorien verstärkend wirken. Ich sehe da im Moment eine sehr schlechte und noch negativere Entwicklung.

Was mir bei der Debatte immer wieder fehlt ist der geopolitische Zusammenhang zwischen Fluchtursachen und unserem eigenen Konsumverhalten. Die Konzerne spielen dabei eine entscheidende Rolle. Unternehmen wie Nestle oder Glencore beuten über Tochterunternehmen die Rohstoffe aus und verschieben die Gewinne in Steuerparadiese wie Panama, Keyman, Mauritius usw.

Diese Zusammenhänge werden zwar ab und zu in guten Dokumentationen (Arte etc.) aufgegriffen, die breite Öffentlichkeit interessiert sich dafür aber nicht, im Gegenteil profitiert über Fonds die in solchen Unternehmen investiert sind sogar mit daran. Das fehlt mir in den Debatten.

Danke, lieber Torsten. Mich beschäftigt beim Thema Flucht/Migration aus Afrika vor allem die Frage der Fluchtursachen, vor allem, weil ich ganz persönlich, aber auch als Erkenntnis aus zahlreichen Chats mit jungen Leuten aus Westafrika immer wieder mit diesem Thema konfrontiert werde.

Dabei spielen sicherlich weniger die „klassischen“ asylrechtsrelevanten Fluchtursachen (Krieg/Bürgerkrieg, Gewalt, Terror, politische Verfolgung) eine Rolle, vielmehr Ursachen, die man im Westen gerne als irrelevante Fluchtmotive von „Wirtschaftsflüchtlingen“ abtut. Dabei wird aber verkannt, daß es weniger rein wirtschaftliche Gründe oder gar das Verlangen nach Wohlstand ist, das Menschen in die Ferne treibt, sondern pure Not, Armut und teilweise Verzweiflung aus diversen „externen“ Gründen, die Fluchtwillige nicht positiv beeinflussen können. So ist mir bisher am häufigsten das Fluchtmotiv der Erkrankung naher Angehöriger (oder der Angst davor) begegnet. Immer wieder schildern mir meine jungen Chatfreunde (meistens Schüler oder Studenten aus Westafrika), daß sie ihren Eltern oder sonstigen Angehörigen und sich selbst ersparen wollen, im Falle einer (schweren) Erkrankung quasi aus Armut sterben zu müssen.

Anders formuliert: Neben Perspektivlosigkeit, Armut, Krieg und Terror haben viele junge Westafrikaner (meistens Männer) noch einen weiteren wichtigen Grund, vorzugsweise in ein anderes afrikanisches Land, aber auch nach Europa zu emigrieren: Sie wagen die oft lebensgefährliche Flucht meist nicht aus dem Verlangen nach materiellen Gütern oder gar aus Spaß oder Abenteuerlust, sondern um von Europa oder anderswo aus ihre Verwandten finanziell zu unterstützen. Diese kommen zwar normalerweise irgendwie über die Runden und leben vor allem auf dem Lande überwiegend von dem, was die Natur für sie bereithält. Und sie helfen einander in vorbildlicher Weise. Viele haben jedoch so gut wie kein Geld und kein Bankkonto. Schnell gibt es daher existentielle Probleme, wenn jemand so krank wird, daß er im Krankenhaus behandelt oder gar operiert werden muß. Dann stößt auch die zwischenmenschliche Solidarität in Mali oder anderswo in Westafrika an ihre Grenzen. Es gibt weder eine allgemeine Krankenversicherung noch Sozialhilfe. Obwohl die Behandlungskosten, an unseren Maßstäben gemessen, extrem niedrig sind, übersteigen sie bei weitem die Möglichkeiten vieler Malier. Nicht selten sterben dann Menschen mitten im Leben an beherrschbaren Erkrankungen wie Blinddarmentzündung. Ohne Geldtransfer zum Beispiel von in Europa lebenden Angehörigen ist ihr Schicksal also oft besiegelt.

Als Resümee kann man also sagen, daß die Installation einer allgemeinen (gesetzlichen) Krankenversicherung, am besten als Pflichtversicherung, neben den genannten Gründen (Unsicherheit, Armut, Perspektivlosigkeit) derzeit m.E. die vorrangigste Maßnahme wäre, um die nach wie vor große Zahl der Fluchtwilligen zu verringern. Ein junger Student mag exemplarisch für die, vor allem seelische Not stehen, denen junge, meist gutausgebildete junge Westafrikaner ausgesetzt sind: Nachdem ich ihm eindringlich die Risiken einer Flucht geschildert hatte (Lebensgefahr in der Sahara. Chaos und Anarchie in Libyen, Schlepperunwesen, Lebensgefahr auf dem Mittelmeer), blieb er trotzdem bei seinem Fluchtwunsch und sagte sinngemäß: „Lieber sterbe ich, als daß ich es nicht wenigstens versuche, meinen kranken Eltern von Deutschland aus finanziell zu helfen, damit sie die notwendige Krankenhausbehandlung bekommen können“.

Was die Finanzierung einer solchen Krankenversicherung als erstem, wohl wichtigsten Teil einer eventuellen allgemeinen Sozialversicherung (Rentenversicherung etc.) anbelangt, so könnte man jetzt unser Konsumverhalten bzw. die Rolle der Großkonzerne ins Spiel bringen. Denn eines ist wohl klar: Aus eigener Kraft könnte ein westafrikanischer Durchschnittsbürger die Beiträge für eine solche Versicherung nicht aufbringen, selbst wenn man sie anfangs auf die Krankenhausbehandlung beschränkte, was ich vorschlagen würde.

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