Mali – reiches Land, arme Menschen
Ich habe mir aus Anlaß der Verlobung meines malischen Sohnes Makan mit einer jungen malischen Frau aus der Elfenbeinküste ein paar grundsätzliche Gedanken gemacht. Vordergründig ging es zunächst um den Brauch im ländlichen Mali, wonach Kühe eine beliebte Dreingabe der Eltern des Bräutigams an die Brauteltern sind. Dies hat mich zu nachfolgenden allgemeinen Ausführungen über Mali und seine Menschen veranlaßt.
Kühe, aber auch Schafe, Ziegen und Hühner spielen im ländlichen Mali eine wichtige Rolle bei der (Selbst-)Versorgung der Menschen. Dazu kommen natürlich Agrarprodukte wie Erdnüsse, Baumwolle, Hirse, Reis, Mais, Maniok, Gemüse und diverse Obstsorten, vor allem Mangos, aber auch wilde (gejagte) Tiere, Fische und Waldfrüchte. Da die durchschnittliche Landbevölkerung Malis so gut wie kein Geld hat, kommt einer funktionierenden Selbstversorgung eine überlebenswichtige Bedeutung zu. Geld haben die überwiegend kleinbäuerlichen Familien dort oft nur, wenn sie Überschüsse aus einer guten Ernte haben oder Vieh, Hühner oder sonstige Produkte verkaufen können - oder wenn Angehörige, die zum Beispiel irgendwo in Afrika oder in Europa leben und Arbeit haben, ihnen etwas zukommen lassen. Neben Bürgerkrieg, Terror und Not gibt es zwei Hauptmotive für die (irreguläre) Emigration. Zum einen die verbreitete Perspektivlosigkeit angesichts von Überbevölkerung und Massenarbeitslosigkeit. Durchschnittlich bekommt jede malische Frau sechs Kinder, wobei aber etwa jedes zehnte Kind innerhalb der ersten fünf Jahre stirbt. Neben der Tradition dürfte das Fehlen einer Sozialversicherung der Hauptgrund für den Kinderreichtum sein. Etwa 65 % der Menschen sind dementsprechend unter 25 Jahre alt. Das andere wichtige Motiv für die Emigration ist die Hoffnung, die armen Angehörigen in der Heimat (irgendwann) aus der Ferne finanziell unterstützen zu können. So lebt fast jeder Dritte Malier außerhalb seines Heimatlandes, die meisten allerdings in (West-)Afrika. Die anderen sind überall auf der Welt zu finden. In Europa liegt der Schwerpunkt auf Frankreich, weil die malische Amtssprache Französisch ist. Viele Auslandsmalier sind auch in Spanien und Italien. In Deutschland leben etwas über 3.000 Menschen aus Mali (ohne Deutsche mit malischen Wurzeln). Viele junge malische Männer geben wirklich alles, um irgendwo auf der Welt Erfolg zu haben, auch weil sie nichts so sehr herbeisehnen, als einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Heimat leisten zu können. Man kann das ständige und beharrliche Ringen um die eigene Würde und um würdige Lebensverhältnisse als Teil des malischen Nationalcharakters ansehen. Die Geldtransfers der Auslandsmalier nach Mali sind übrigens viel höher als die Entwicklungshilfe. Zur Wahrheit gehört indes auch, daß Migranten, die ihr Glück in der Ferne nicht finden und deshalb heimkehren, von der Dorfgemeinschaft nicht selten mit Verachtung, ja Ächtung bestraft werden, auch weil die Dorfgemeinschaft oder die Großfamilie oft ihr letztes Geld zusammengerafft, vielleicht sogar Vieh verkauft hat, um die Emigration überhaupt zu ermöglichen. Emigration gilt als höchst ehrenvoll, erfolglose Rückkehr als Schmach. Es sind meist nicht die Allerärmsten der Armen, die in die Ferne gehen, sondern junge Männer, die eine (oft gute) Schulausbildung und Fremdsprachenkenntnisse haben und die die nötigen Hunderter für ihre Reise ins Ungewisse zusammenbekommen. Vereinfacht kann man sagen, daß meist die leistungsstärksten jungen Männer der malischen unteren Mittelschicht emigrieren. Etwa zwei Drittel der malischen Bevölkerung, zumeist Frauen, sind nicht alphabetisiert und sprechen kein oder nur wenig Französisch, sondern ihre Ethniensprache und/oder Bambara, die wichtigste länder- und ethnienübergreifende Volkssprache in Westafrika.
Das ganze Leben in den malischen Dörfern ist notgedrungen so organisiert, daß es im Zweifel (fast) ohne Geld funktioniert. So sind zum Beispiel die Häuser meist aus Lehm (ohne Zement) und mit Strohdächern. Die Häuser müssen alle paar Jahre mit der Hilfe von Angehörigen der Großfamilie oder Nachbarn erneuert werden. Viele Dörfer haben keinen Brunnen zur Trinkwasserversorgung, geschweige denn eine allgemeine Stromversorgung. Ein paar hundert Euro bedeuten schon gehobenen Wohlstand und ermöglichen zum Beispiel den Kauf von Einrichtungsgegenständen bis neuerdings hin zu mobilen Mini-Solaranlagen (mit Akku) für die Beleuchtung, zum Aufladen der Billig-Smartphones, hier und da auch zum Betrieb von Kühlschränken und Fernsehgeräten. Und wer das große Glück hat, einen fünfstelligen Eurobetrag zu haben, kann sich auch ein massives Haus aus Steinen bauen (lassen). Und nicht nur Jugendliche sind überglücklich, wenn sie sich für umgerechnet ein paar hundert Euro den Traum eines preiswerten „Motos“ (Mopeds) aus chinesischer Fertigung oder von Adidas-/Nike-Sportbekleidung erfüllen können. Sie fotografieren dann voller Stolz ihren Luxus und schicken die Bilder via Facebook um die Welt. Dann staunt man über den seltsamen Kontrast aus Tradition und Moderne in den durchaus idyllischen Dörfern Malis, die teilweise noch aussehen wie vor Jahrhunderten. Klingt vielleicht ein bißchen nach (Aussteiger-)Paradies, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in Mali, einem der zehn ärmsten Länder der Welt (Rang 182 von 189 im UNDP-Index der menschlichen Entwicklung), vielfach Armut unvorstellbaren Ausmaßes bis hin zu Not und Hunger, ja nicht selten Verhungern gibt. Oder es sterben schwerkranke Menschen, weil sie kein Geld für eine Krankenhaus-Behandlung haben. Ein Facebook-Freund, Peter Brucker vom Verein Mali-Hilfe e.V., war bei seinem ersten Besuch in Mali von der Armut und Not dort so niedergeschlagen, daß er nach seiner Rückkehr nach Deutschland ein paar Tage lang nichts essen konnte! Viele Menschen in Mali wirken bei oberflächlicher Betrachtung opportunistisch, nutzen ihre Kontakte nach Europa und anderswo für ihre ständige, vielleicht bisweilen nervende Suche nach Hilfe und Unterstützung. Aber vor dem Hintergrund ihrer oft unbeschreiblichen Not ist dies mehr als verständlich. Und wer in Mali zur Minderheit gehört, die eine Anstellung bei einem staatlichen Arbeitgeber, im Schuldienst, bei der Polizei oder beim Militär ergattert hat, um dort wenigstens ein bescheidenes Gehalt zu beziehen, steht besonders unter Druck. Die gesamte oft weitverzweigte Großfamilie erhofft im Notfall Hilfe, zum Beispiel bei einer schweren Erkrankung. Das erklärt nicht nur den erwähnte Suche nach jedem Strohhalm, sondern wohl auch die allgegenwärtige Korruption: ohne Schmiergeld geht fast nichts!
Dabei ist Mali nicht nur ein großes Land in Westafrika, etwa dreieinhalbmal so groß wie Deutschland bei 19,7 Millionen Einwohnern, sondern auch ein erstaunlich reiches Land mit einer großartigen Kultur und Geschichte. Kulturstätten wie Timbuktu und Djenné zeugen davon. Hervorzuheben ist auch die ethnische Vielfalt (rund 30 verschiedene Ethnien mit mindestens 13 Sprachen sowie unzähligen Dialekten), die mit einer beispiellosen kulturellen Vielgestaltigkeit korrespondiert. Stellvertretend für viele möchte ich hier auf die Ethnie der Dogon mit dem 200 Kilometer langen Felsmassiv von Bandiagara hinweisen, das mit seinen 250 Dörfern zum Weltkulturerbe gehört.
Besonders herausragend ist auch die malische Musik, die wegen ihrer Mannigfaltigkeit und musikalisch-handwerklichen Qualität unsere populäre Musik bei weitem in den Schatten stellt. Nicht ohne Grund gilt Mali als „musikalische Weltmacht“ (DER SPIEGEL). International bekannte (Welt-)Musiker wie Salif Keïta, Oumou Sangaré, Habib Koité, Neba Solo, Toumani Diabaté, Ali Farka Touré, Bassekou Kouyaté, Amadou & Mariam, Tiken Jah Fakoly, Master Soumy und Dutzende andere zeugen davon. Die reichen musikalischen Traditionen Malis trugen auch zur Entstehung des amerikanischen Blues und Jazz bei, Traditionen, die von versklavten Afrikanern mitgebracht wurden. Obwohl große Teile Malis von Trockenheit bis hin zur Wüste Sahara im Norden geprägt sind, ist Mali auch ein fruchtbares Land mit einer bedeutenden Produktion von landwirtschaftlichen Produkten wie Baumwolle, Erdnüsse und Mangos im Süden des Landes. Auch die Viehwirtschaft spielt eine große Rolle. Kontrastierend zur teils unvorstellbaren Not der Menschen ist die Tatsache, daß Mali reich an Bodenschätzen wie Gold und Uran ist. So ist Mali der drittgrößte Goldproduzent Afrikas! Und der reichste Mensch, den es jemals gab, König Kanku Mansa Musa I, hat im 14. Jahrhundert in Mali gelebt und besaß unvorstellbar viel Gold. Kanku Mansa Musa war von 1312-1337 Herrscher des malischen Reiches. Musa soll eines Tages nach Mekka gepilgert sein, wobei er nach der Überlieferung ein Gefolge von 60.000 Männern, 80 Kamelen und 12.000 Sklaven hatte, die jeweils einen 2 kg schweren Goldbarren trugen. Zum kulturellen Reichtum dieses außergewöhnlichen Landes gehört auch die Tatsache, daß die älteste Verfassung der Welt aus Mali stammt. Der Gründervater Malis, Sundiata Keïta, hat sie als Herrscher des damaligen Königreichs Mali im 13. Jahrhundert entworfen. Diese Verfassung erscheint übrigens erstaunlich fortschrittlich. Sie gilt auch als älteste Erklärung grundlegender Menschenrechte der Welt! Abschließend noch ein Hinweis für Fußballfans: Zahlreiche europäische Fußballstars, die in den den Ligen Europas erfolgreich sind, stammen aus Mali. Sie gehören auch zu den größten finanziellen Unterstützern ihrer Heimat. So hat beispielsweise der malische Stürmerstar von Olympique Lyon, Moussa Dembélé, im Frühjahr dieses Jahres mit seinen Spendengeldern in der Heimatgemeinde Makans, Kobiri, den Bau der ersten Kinderklinik dort, die Anschaffung eines Krankenwagens und die Errichtung von 17 Fußballplätzen in Dörfern der Kommune ermöglicht.
Man darf es sich nicht so leicht machen, den Grund für die große Armut in Mali nur in der Überbevölkerung zu suchen. Es liegt auch nicht nur daran, daß vor allem die Elite des Landes oft korrupt und kleptokratisch ist, auch wenn die Unterschiede zwischen Arm und Reich in Mali mindestens so groß wie in den USA sind. Vielmehr hat die Armut auch mit den Nachwirkungen der ehemaligen Kolonialisation durch Frankreich zu tun. Offiziell endete die französische Kolonialzeit zwar im Jahre 1960; seither hat jedoch vor allem der wirtschaftliche Einfluß Frankreichs kaum nachgelassen. Es gibt einen „Kolonialpakt“, der die teils großen Hassgefühle vieler Malier gegenüber Frankreich verständlich erscheinen läßt. So schrieb die Publikation „Deutsche Wirtschaftsnachrichten“ im Jahre 2019: „Frankreich beutet zahlreiche afrikanische Staaten im Rahmen des Kolonialpakts finanziell und wirtschaftlich aus“. Italiens Vizepremier Di Maio meinte: “Wenn wir heute noch Menschen haben, die Afrika verlassen, liegt dies vor allem an mehreren europäischen Ländern wie Frankreich, die die Kolonialisierung Afrikas nicht beendet haben.” In diesem Zusammenhang wird eine Summe von 440 Mrd. Euro jährlich(!) genannt, die von den ehemaligen französischen Kolonien in Westafrika nach Frankreich fließen soll. Der Kolonialpakt garantiert Frankreich weiterhin das Vorkaufsrecht auf alle natürlichen Ressourcen und einen privilegierten Zugriff auf staatliche Aufträge. In Burkina Faso zum Beispiel, einem Nachbarland Malis, das vom IWF auf Platz 184 von 187 Ländern eingestuft wird, gehen nur 10 % der Einnahmen aus zehn ausgebeuteten Goldminen an das Land und 90 % an die multinationalen Unternehmen. Und obwohl Frankreich keine eigenen Goldminen hat, besitzt es die viertgrößten Goldreserven der Welt (2346 Tonnen), während es in Mali 50 Goldminen gibt, die 53 Tonnen pro Jahr produzieren - Mali hat aber keine eigenen Goldreserven! Ein ehemaliger französischer Präsident sprach davon, Frankreich wäre ohne die westafrikanischen Ressourcen selbst ein Entwicklungsland. Ein anderes Problem ist die von westlichen Konzernen nach wie vor praktizierte Ausbeutung durch Kinderarbeit in Afrika. Während hierzulande vor allem in der Weihnachtszeit in Europas Kinderzimmern fleißig Schokolade genascht wird, sind es oft auch Kinder, die unter prekären Bedingungen arbeiten müssen. Trotz zahlreicher Versprechungen nimmt die Kinderarbeit in Westafrika, namentlich in der Elfenbeinküste als größtem Kakaoproduzenten der Welt, sogar noch zu. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Erwähnen möchte ich nur noch, daß europäische Museen voll von Raubkunst afrikanischer Provenienz sind. Erst allmählich kommt es wenigstens in dieser Frage zu einem Umdenken der Verantwortlichen.
Epilog
Wir im Okzident wissen generell leider meist so gut wie nichts über Afrika. Dieser riesige Kontinent mit seinen 55 Ländern macht, wenn überhaupt, fast nur negative Schlagzeilen. Das gilt erst recht für Mali. Dabei können wir nicht nur in kultureller, sondern vor allem in menschlicher und sozialer Hinsicht sehr viel von der malischen Gesellschaft und ihren herzerfrischend freundlichen, offenen und kultivierten Menschen lernen. Vor allem sollten wir mit unserem degenerierten, konsumorientierten und materialistisch-egomanischen Lebensstil uns davor hüten, den Menschen dort mit klassistisch-hochmütiger Geringschätzung oder Überheblichkeit, also mit „weißer Arroganz“ statt auf Augenhöhe zu begegnen. Ihre Lebenverhältnisse mögen teils einfacher und bei oberflächlicher Betrachtung „rückständiger“ als unsere sein, aber keineswegs primitiver oder gar unzivilisierter. Im Gegenteil: Je mehr ich über Mali weiß, umso mehr bin ich voller Demut, Hochachtung, Respekt und Dankbarkeit bereit, mehr von den Menschen dort anzunehmen als der Versuchung zu erliegen, ihnen unser westliches Lebensmodell oder Zivilisationskonzept überstülpen zu wollen. Wir sollten also meines Erachtens die menschliche Größe einer aufgeklärten Grundhaltung mit der Bereitschaft zur Selbstkritik haben und die Rolle der aufgeschlossen Lernenden, nicht die der Belehrenden, Besserwissenden oder gar Missionierenden einnehmen. Dies umso mehr als der Reichtum des Westens unter anderem Folge einer bis heute andauernden Sklaverei und der schamlosen Ausplünderung Afrikas ist. Der Westen mitverursacht die Armut in Afrika also und wundert sich, daß das Elend an seine Tore klopft. Aber das Bewußtsein und die Wut der Afrikaner wegen dieser unerträglichen Zusammenhänge wachsen allmählich. Eine tickende Zeitbombe! Wir im Westen haben einiges gutzumachen, und ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, im Interesse Afrikas und seiner Menschen auf Gerechtigkeit und Solidarität hinzuwirken.